XI.   Das menschliche Leben

 

 

 

1. Kinder

 

 

Mutter Teresa:

 

Besser als viele Worte können die Erlebnisse Mutter Teresas mit Kindern ihre Beziehung zu ihnen nahe bringen. Die kleine Nonne liebte sie aus ganzem Herzen und erhielt die beglückende aber herausfordernde Aufgabe geschenkt, die Mutter Tausender Kinder zu sein.  

 

Einmal bekam sie einen Brief von einem kleinen Kind in Amerika. Sie wusste, dass es noch klein war, denn es schrieb mit großen Buchstaben: „Mutter Teresa, ich habe dich so lieb, ich schicke dir mein Taschengeld“, und im Briefumschlag lag ein Scheck über drei Dollar. [254]

 

Die Schwestern fanden eines Tages ein verwahrlostes Kind auf der Straße und brachten es in ihr Heim. Sie badeten es, zogen ihm saubere Sachen an, fütterten es und umsorgten es mütterlich, aber es rannte weg. Am nächsten Tag wurde es von jemand anderem gebracht, aber es lief wieder weg.

Als das Kind zum dritten Mal gebracht wurde, wies Mutter Teresa eine der Schwestern an, ihm zu folgen.

Unter einem Baum saß seine Mutter und kochte etwas, das sie aus den Mülltonnen geholt hatte.

Das Kind erklärte der Schwester: „Hier ist mein Zuhause, denn das ist da, wo meine Mutter ist.“ [255]

 

Einmal schenkte Mutter Teresa einem Nichtglaubenden ein Gebetsbildchen. Er nahm es mit heim, und die Kinder begannen zu beten. Als sie ihn wieder traf, sagte der Mann:

„Mutter, sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ihr Gebet und das Bildchen die ganze Familie durcheinander gebracht haben! Die Kinder wollen wissen, wer Gott ist.

Sie wollen wissen, warum Sie, Mutter, solche Worte sagen.“ [256]

 

Gegen Mitternacht kam einmal ein kleines Kind in das Haus der Schwestern und sagte weinend

zu Mutter Teresa:

„Ich bin zu meiner Mutter gegangen, sie wollte mich nicht; ich bin zu meinem Vater gegangen, er wollte mich nicht...Und du, willst du mich?“ [257]

 

Eines Tages stand ein Mädchen mit einer Tüte voller kleiner Münzen vor dem Haus der Schwestern in London und sagte: „Das ist für die armen Männer.“

Sie wohnte an derselben Straße und hatte die Heimbewohner dort entlanggehen sehen.“ [258]

 

In Kalkutta fand Mutter Teresa ein hungerndes Kind auf der Straße und gab ihm ein Stück Brot.

Das Kind nahm es und begann ganz langsam eine Krume nach der anderen zu essen. Dabei sagte es: „Ich habe Angst. Wenn ich das Brot aufgegessen habe, bekomme ich wieder Hunger.“[259]

 

Ein Mädchen schrieb Mutter Teresa einen Brief. Sie ging zur Erstkommunion und bat ihre Eltern:

„Kauft keine besonderen Kleider für mich. Ich werde in meiner Schuluniform zur Erstkommunion gehen. Macht kein Fest für mich. Gebt mir lieber das Geld; ich möchte es Mutter Teresa schicken.“ [260]

 

 

 

Frère Roger:

 

Auch Frère Roger ist ein großer Freund der Kinder.

In seinem Tagebuch finden sich immer wieder berührende Erlebnisse mit ihnen, und sein großes Verständnis für ihre Freuden und Sorgen wird deutlich spürbar.

 

Gerade bei den gemeinsamen Gebeten der Gemeinschaft mit ihren Gästen werden die Kinder dadurch hervorgehoben, dass sie Kerzen in der Kirche entzünden und dann ganz in der Nähe des Priors sitzen dürfen. Frère Roger möchte durch diese Geste darauf hinweisen, dass wir alle vor Gott im Geist des Kindseins leben dürfen, egal welchen Alters oder Standes wir sind.

 

Er selbst brachte aus Indien ein kleines Waisenkind namens Marie - Sonaly, das dort alle seine Verwandten verloren hatte, nach Taizé und zog es als sein Patenkind auf. Viele Photos aus dieser Zeit zeigen die beiden zusammen bei den verschiedensten Anlässen.

In den letzten Jahren waren es vor allem Kinder aus Bosnien und Ruanda, die in Taizé eine sichere Bleibe fanden.

Auf den meisten Abbildungen Frère Rogers sind Kinder in seiner Nähe zu sehen und deuten so in gewisser Weise auch seine geistliche Vaterschaft für so viele Menschen an.

 

 

„Die Kinder - welches Glück und welches Geheimnis sind sie in unserem Leben!

Was können sie nicht alles weitergeben durch die Gaben, die sie noch nicht kennen, die der Heilige Geist aber längst in sie gelegt hat.

Durch das Vertrauen, das sie uns entgegenbringen, durch ein Wort oder eine Frage, die sie an uns richten-so unerwartet, dass sie uns zum Leben in Gott führt-, lassen sie uns etwas vom lebendigen Gott begreifen.“ [261]

 

„Wenn ein Kind zu einem Ort des Gebets mitgenommen wird, entzündet sich in ihm eine Flamme. Vielleicht wird es sie vergessen; dennoch kann sie später wieder aufflammen.

Es braucht nicht viele Worte, um in einem Kind Vertrauen zu Christus zu wecken:

ihm die Hand auf die Stirn legen, es an den Frieden Christi erinnern -

und schon kann es von einer unsichtbaren Gegenwart erfüllt werden, die es prägen wird.“ [262]

 

 

 

 

2. Jugendliche

 

 

Mutter Teresa:

 

Mutter Teresas Arbeit war natürlich auch den Jugendlichen gewidmet, und in ihren Büchern gibt es viele Geschichten über Begegnungen mit ihnen. Das Leid ihres jeweiligen Volkes war dabei in ganz besonderer Weise auch ihr Leid, weil sie gerade im Begriff waren, in der Gesellschaft ihres Landes Verantwortung zu übernehmen.

 

Eine besondere Begabung hatte die Ordensgründerin aber im Motivieren der Jugendlichen für einen Einsatz im Dienst der Armen. Die meisten der Schwester und Brüder ihrer Kongregation waren noch recht jung, als sie die ersten Kontakte zu der Gemeinschaft knüpften, und auch unter den Mitarbeitern fanden sich viele Jugendliche.

Mutter Teresas leuchtendes Vorbild  der Heiligkeit in unserer modernen Welt begeistert bis heute die jungen Menschen in allen Erdteilen, die kaum etwas so eifrig suchen, wie das Beispiel eines geglückten, wahrhaftigen Lebens. 

 

„Die jungen Menschen sind die Bauleute von morgen... Die heutige Jugend will sich selbst vergessen, das sucht sie, darauf setzt sie.

In Harlem hat uns ein junges Mädchen aus reichem Haus in ihrem Auto eingeholt und hat mir gesagt: ,Ich habe alles den Armen geschenkt und bin gekommen, um Christus nachzufolgen.’“[263]

„Allen Jugendlichen möchte ich sagen: Öffnet euer Herz für die Liebe, die Gott euch geben will.

Er liebt euch voller Zärtlichkeit. Er schenkt es euch, nichts für sich selbst aufzubewahren, sondern mit den anderen zu teilen.

Je weniger ihr habt, desto mehr könnt ihr geben; je mehr ihr habt, desto weniger könnt ihr geben.“ [264]

 

 

Frère Roger:

 

Eine der vielen Berufungen Frère Rogers ist es, seit mehr als vierzig Jahren ein väterlicher Freund für Jugendliche auf der ganzen Welt zu sein. Der Ort, an dem er den Großteil seines Lebens verbracht hat, besitzt heute eine weltweit einzigartige Bedeutung.

 

Kardinal Lustiger, Erzbischof von Paris, verbirgt nicht, dass ihn Taizé beeindruckt:

„Die Brüder von Taizé führen ein stilles Leben und kümmern sich dennoch am intensivsten um die europäische und weltweite Jugend im Ganzen. Die gesamte Jugend Europas passiert seit Jahren diesen Ort der Gemeinschaft, des Zusammenwachsens und des Friedens.

Jetzt gesellen sich Afrika und Asien hinzu.

Taizé ist ein wahrhaft ökumenischer Ort, an dem man einander achtet, wo ebenso wenig Polemik wie Vermischung geschieht.  Es ist ein selbstloser Ort; die Jugendlichen werden nicht auf Taizé verpflichtet, sondern in ihre Kirchengemeinden zurückgeschickt.

Taizé hat die wesentliche Botschaft des Christentums entdeckt:

Je mystischer ein Mensch, desto praktischer ist er; je mehr man für Gott ist, desto mehr ist man für den Menschen, desto mehr ist man gestimmt, sich notfalls die Hände schmutzig zu machen, um Menschen in Bedrängnis beizustehen.“ [265]

 

Selbst Papst Paul VI. bat Frère Roger einmal, ihm den vermeintlichen Schlüssel zum Verständnis der Jugend zu zeigen, worauf dieser in aller Demut erwiderte, dass er selbst diesen Schlüssel auch nicht besitze.

 

Was der Prior von Taizé aber ganz sicherlich besitzt, ist die Bereitschaft, den jungen Menschen zuzuhören, und dadurch mit ihnen Freud und Leid zu teilen.

Auf erstaunliche Weise ist es ihm auch gelungen, die Fähigkeiten der Jugendlichen zu fördern und ihr Verantwortungsbewusstsein zu wecken.

Bei den mannigfachen Aktivitäten der Communauté fällt immer wieder auf, welch große Aufgaben die Brüder ihren Helfern zutrauen und sie dadurch als Personen sehr ernst nehmen. 

 

 

„Wenn ich in warmen Sommernächten manchmal allein unter einem Himmel von Sternen wandere, während Tausende von Jugendlichen auf dem Hügel sind, sage ich mir:

Die vielfältigen Vorstellungen der Jugendlichen sind wie Sterne, lichtvolle Hoffnungen in meiner Nacht. Nein, ich habe keine Sorge um die Zukunft.

Ein Frühling der Kirche steht vor der Tür. Bald wird uns sein Feuer erwärmen.“ [266]

 

„Wir möchten mit ihnen überlegen, wie man einen neuen Anlauf nehmen, wie man sich darauf vorbereiten kann, verantwortliche Aufgaben zu übernehmen.“ [267]

 

„Bis ans Ende der Welt, ja wenn nötig, bis an die Grenzen der Erde würde ich gehen, um mein Vertrauen in die neue Generation, mein Vertrauen in die Jugend immer wieder hinaus zu rufen, wieder und wieder.“ [268]

 

 

 

 

3. Familie

 

 

Mutter Teresa:

 

Vieles zu diesem Thema ist schon in dem Abschnitt über die Ehe an geklungen, und hier soll noch einmal betont werden, welch überaus große Bedeutung Mutter Teresa der Familie zuerkannte.

Besonders wichtig war ihr dabei, alle Familienmitglieder dazu zu ermuntern, ihr gemeinsames Leben auf Gott zu gründen und in ihrem einfachen Englisch wiederholte sie dafür immer wieder einen einfachen Spruch: „A family who prays together, stays together.“

 

 

„Ich bete für alle Familien. Sie mögen wachsen in der Heiligkeit durch die Liebe füreinander. Bringt Jesus, wohin ihr auch geht. Die anderen sollen nur Jesus in euch sehen.

Betet für eure Kinder, betet, dass eure Töchter und Söhne den Mut haben, ja zu Gott zu sagen und ihr Leben ganz ihm zu weihen.

Viele Familien wären glücklich, wenn ihre Kinder ihr Leben Gott schenkten.

Betet für sie, dass sie diesen Herzenswunsch erfüllen können.“ [269]

 

„Beten wir in unseren Familien, beten wir mit den Kindern.

Lehrt sie beten. Denn ein Kind, das betet, ist ein glückliches Kind.

Eine Familie, die betet, ist eine geeinte Familie.“ [270]

 

 

 

Frère Roger:

 

Auch Frère Rogers Aussagen über die Ehe sind natürlich in einem sehr engen Zusammenhang mit seinem Verständnis der Familie zu sehen. Als Vertrauensperson von hohem Ansehen hat er tiefen Einblick in das Leben der verschiedensten Familien gewinnen  und diese seine Erfahrungen zum Wohl aller Beteiligten weitergeben können.

 

Sein großes Verständnis für das Wesen der Familie drückt sich auch in dem von ihm häufig gebrauchten Begriff der Menschheitsfamilie als Umschreibung für die enge Verbundenheit der gesamten Menschheit  aus.

 

„Schon in frühester Kindheit haben mich die schweren Sorgen meiner Eltern geprägt.

Ich empfand mit ihnen und litt darunter. Ich entdeckte den Ernst des Lebens, eine große Familie, einen Vater im Kampf mit den täglichen Sorgen.“ [271]

 

 

 

 

4. Alte

 

 

Mutter Teresa:

 

Den alten Menschen, als den oft gering geschätzten und vergessenen, galt natürlich Mutter Teresas Zuneigung.

Sie betonte immer wieder den Wert des Alters und ermutigte die betagten Menschen, sich ihrer besonderen Würde bewusst zu werden.

Das persönliche Beispiel der kleinen Nonne war dabei von überzeugender Kraft, denn sie selbst, die gut ein Drittel ihres Lebens als den Lebensjahren nach alter Mensch verbrachte, verwirklichte auf eindrucksvolle Weise die ihr von Gott für diesen Abschnitt zugeteilten Aufgaben.

„Wenn ich konnte, habe ich es nie versäumt, die Altenheime zu besuchen. Viele der alten Menschen sind von ihren Söhnen und Töchtern in das Heim gebracht und vergessen worden.

Sie hatten alles, viele schöne Dinge, aber jeder starrte auf die Tür.

Ich sah nicht einen einzigen der alten Menschen, der lächelte.

Da wandte ich mich an eine Schwester und fragte: ,Wie kommt es, dass diese Leute, denen es hier an nichts fehlt, alle auf die Tür starren? Warum lächeln sie nicht?’

Ich bin es gewohnt, unsere Leute lächeln zu sehen; selbst die Sterbenden lächeln.

Die Schwester antwortete: ,Es ist fast jeden Tag das gleiche. Sie warten. Sie hoffen auf einen Besuch ihrer Kinder.’“ [272]

 

 

Frère Roger:

 

Das zu Mutter Teresa Gesagte trifft auch in diesem Bereich auf Frère Roger zu.

In seinen Schriften, insbesondere dem Brief aus Taizé, ist das beständige Bemühen zu sehen, zwischen den Generationen zu vermitteln und freundschaftliche Weisen des Zusammenlebens zu eröffnen.

 

Die alten brauchen die jungen Menschen, aber ebenso brauchen die jungen auch die alten Menschen, weil sie aus deren Leben viel lernen können und eines erfahrenen Menschen zum Aussprechen bedürfen. 

Durch seine große Popularität gerade bei den Jugendlichen konnte Frère Roger vielen von ihnen diese wichtige Dimension ihres Daseins nahe bringen.

 

 

„Hier fällt mir ein Wort der Großmutter eines meiner Brüder ein:

,Ich langweile mich niemals, denn ER ist immer da’, und dabei zeigte sie auf ein Bild Christi, wie er am Abend bei den Emmausjüngern sitzt.

Ich langweile mich nie. Dieselben Worte habe ich aus dem Mund meiner Mutter gehört.

Diese Frauen vorgeschrittenen Alters haben uns immer wieder in Staunen versetzt durch ihren Mut und die Kraft ihres Einsatzes, wodurch sie Jüngere mitreißen.“ [273]

 

 

 

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