IV. Die christlichen Tugenden
Mutter Teresa:
Für Mutter Teresa war der Glaube an Gott das selbstverständliche Vertrauen des kleinen, hilflosen Menschen auf seinen allmächtigen und ihn liebenden Schöpfer.
Die Größenverhältnisse waren von vornherein klar, und damit konnte die einzigartige und unendlich geheimnisvolle Beziehung beginnen, die den Menschen über sich selbst und seine Umwelt hinausführt und sein Leben in der grundlosen Tiefe Gottes verankert.
Mutter Teresas Aussprüche über den Glauben waren geprägt von ihrer tiefen Demut und ihrem so erfrischend natürlichen Verhältnis zu dem, der ihr einziger Herr war. Der Grund, auf dem ihr Leben ruhte, blieb dem menschlichen Auge verborgen, aber ihre Worte und Taten ließen ihn immer wieder erahnen. Gerade die so genannten Ungläubigen, denen sie immer mit besonderem Wohlwollen begegnete, fanden durch sie unzählige Gelegenheiten ihre oft festgefahrenen Ansichten noch einmal zu überdenken.
In den reichen, hochtechnisierten Ländern fand die unscheinbare Nonne mit ihren einfachen, aber so bewegenden Anliegen begeisterte Zuhörer, Unterstützer und Mitarbeiter. Sie war und ist ein Aushängeschild des katholischen Glaubens, und es wäre faszinierend, zu erfahren, für wie viele Menschen sie der entscheidende Grund war, in dieser Glaubensgemeinschaft zu bleiben oder ihr beizutreten.
Aber auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen zollten ihr immer wieder höchste Anerkennung und unterstützten tatkräftig ihre Bemühungen. Die wirkliche Tiefe ihrer Persönlichkeit lässt sich besonders darin erkennen, dass Mutter Teresa mit einer kaum zu überbietenden Offenheit ihren christlichen Glauben bekannte, und gleichzeitig allen Andersgläubigen mit grenzenloser Liebe begegnete.
Bei all ihren Unternehmungen ging sie mit großer religiöser Behutsamkeit vor, und fand auch für schwierige Problemstellungen eine für beide Seiten akzeptable Lösung.
Den Hindus empfahl sie, bessere Hindus zu werden, den Moslems bessere Moslems, und dabei war es immer klar, dass sie selbst an Jesus Christus als ihrem Herrn und Meister festhielt. Dieser unaufdringliche Hinweis auf den Erlöser der Welt, für den sie mit der gesamten Kraft ihrer Person einstand, entsprach ganz ihrem gütigen aber unerschütterlichen Wesen und ist wohl der einzige Weg der Verkündigung des christlichen Glaubens in der heutigen Zeit.
Eine einfache Nonne mit einer außergewöhnlichen Liebe zu Jesus hat auf diese Weise mehr Menschen zum Herrn geführt, als noch so viele, noch so gut gemeinte Konzepte, die reine Theorie geblieben sind.
Den Christen sämtlicher Konfessionen schließlich war sie immer zugleich Vorbild als auch Mahnerin zu einem glaubwürdigen Leben in der Nachfolge Christi, und gerade ihre außergewöhnliche Erscheinung ließ sie zu einer Einheit stiftenden Vermittlerin über alle Konfessionsgrenzen hinaus werden.
„Glaube ist eine Gnade Gottes. Ohne ihn würde es kein Leben geben. Und unsere Arbeit muss, um fruchtbar und ganz für Gott zu sein und schön, auf den Glauben begründet werden. Der Glaube muss, um echt zu sein, gebende Liebe sein. Glaube und Liebe gehen zusammen. Sie vervollständigen sich gegenseitig.“ [88]
„Glaube - das ist die wunderschönste Gabe, die Gott einem menschlichen Wesen geben kann.“[89]
„Ich wäre eher bereit, mein Leben herzugeben als meinen Glauben.“ [90]
Frère Roger:
Frère Roger ist gerade auch durch sein so einfaches Verständnis des Glaubens zutiefst mit Mutter Teresa verbunden.
In ihm haben ganze Generationen von Jugendlichen einen Menschen gefunden, der ihnen auf faszinierende Weise einen Zugang zu einer lebendigen Beziehung mit Gott eröffnet, und sie als liebevoller Bruder und väterlicher Freund immer wieder dazu ermutigt hat, den einmal eingeschlagenen Weg auch weiterzugehen.
Er war und ist der treue Anwalt des einfachen Vertrauens auf Gott, das sich auf tausenderlei Weisen ausdrücken und von jedem Menschen gelebt werden kann. Dieses Vertrauen ist der Grund, auf dem wir stehen und der Grund, weshalb wir weiter schreiten.
Schwierige theologische Überlegungen mögen durchaus ihre Berechtigung haben, aber bei Frère Roger liegen die Schwerpunkte eindeutig auf einer anderen, solideren Ebene.
Er sieht sich den Vielen verpflichtet und weiß sehr genau darüber Bescheid, dass gerade der übertriebene Rationalismus den heutigen Menschen untragbare Lasten auferlegt.
Der Prior von Taizé hat es der Communauté zur Aufgabe gemacht, die Quellen des Glaubens möglichst allen Menschen zugänglich zu machen und selbst daraus zu leben.
„Vielleicht hast du es schon bemerkt: zutiefst im Menschen ruht die Erwartung einer Gegenwart.
Denk daran: diese einfache Sehnsucht nach Gott ist schon der Anfang des Glaubens.“ [91]
„Wäre das Vertrauen des Herzens aller Dinge Anfang...
Das Vertrauen auf Gott, der Glaube, ist etwas ganz Einfaches, so einfach, dass alle es annehmen könnten. Es ist wie ein Anlauf, den man tausendmal nimmt.“ [92]
„Jeder hat seine eigene Nacht. Aber je dunkler die Nacht ist, desto heller leuchtet die Freude des Glaubens auf. Heißt glauben für diesen Menschen dann aber nicht auch, seine Nacht annehmen? Die Nacht nicht annehmen, hieße ein Privileg beanspruchen. Wenn er wie am hellen Tag sehen könnte, wozu sollte er dann noch glauben? Wer aufbricht, ohne zu wissen wohin, der ist ein Mensch, der glaubt, ohne zu sehen.
Keine Furcht vor der Dunkelheit ist in ihm; sie wird von innen her erhellt. Die Gewissheit ist felsenfest: Wenn der Augenblick gekommen ist, wird die Nacht zerreißen und das Morgenrot wieder hervorbrechen.
Möge die Morgenröte kommen und eines Tages unser Tod, Anbruch eines neuen Lebens.“ [93]
2. Hoffnung
Mutter Teresa:
Wenn man Christen insbesondere daran erkennen soll, dass sie Hoffnung haben, dann trifft das ganz sicherlich auf Mutter Teresa zu. Die Hoffnung, die man eben gerade noch nicht erfüllt sieht (vgl. Röm 8,24), prägte ihr gesamtes Leben und ließ sie nahezu aussichtslose Situationen bestehen.
Gerade in der Anfangszeit des Ordens waren die Mittel oft äußerst beschränkt, und bis in die Gegenwart hinein standen die Schwestern aufgrund der enorm gewachsenen Aufgaben immer wieder buchstäblich mit leeren Händen da.
Fernab von jedem Romantizismus erlebten sie dann hautnah das Schicksal der von ihnen umsorgten Menschen besonders schmerzvoll mit, und konnten gerade deshalb umso mehr auf die Hilfe von oben hoffen.
„Gott wird sorgen. Es ist sein Werk.“, war die einfache und eindringliche Antwort Mutter Teresas in den Situationen, in denen die Lage schlichtweg hoffnungslos erschien. Diese ganz und gar christliche Haltung, in der Glaube und Hoffnung sich auf greifbare Weise miteinander verbinden, schaffte dann immer den Raum, in dem Gottes Eingreifen spürbar werden konnte.
Als eines von unzähligen Beispielen sei eine Begebenheit erzählt, die sich eines Freitag morgens in Kalkutta abspielte. Die Schwestern kochen allein dort täglich für 7000 Menschen, die ohne sie keinerlei Aussicht auf Nahrung haben, doch für diesen und den nächsten Tag waren alle Essensvorräte restlos aufgebraucht.
Mutter Teresa erzählte später: „Ich war sprachlos und konnte dazu nichts sagen, doch um neun Uhr schloss die Regierung aus irgendeinem Grund alle Schulen, und alles Brot, das die Kinder hätten bekommen sollen wurde uns geschickt, und unsere 7000 Menschen aßen Brot, Brot für zwei Tage.... Niemand in der Stadt wusste, warum die Schulen geschlossen worden waren, aber ich wusste es. Ich wusste, dass Gott mitfühlend und zuvorkommend ist...“ [94]
Frère Roger:
Auch Frère Rogers Leben ist getragen von der Hoffnung und dem ständigen Bemühen, ebenso den anderen Menschen einen Zugang zu dieser Hoffnung zu vermitteln. Alle seine Aussagen stehen in der Spannung seiner überaus realistischen Einschätzung der Gegebenheiten und dem niemals fehlenden Ausblick auf die schmalen Auswege, die uns von Jesus Christus her eröffnet sind.
Im Bild von Licht und Finsternis ist die Finsternis immer schon vom Licht durchdrungen und umfangen, der Auferstandene bahnt selbst dort Wege, wo nach menschlichem Maßstäben alles hoffnungslos erscheint.
„Meine Hoffnung und meine Freude“ heißt in der deutschen Übersetzung eines der bekanntesten Lieder aus Taizé, und die oftmaligen Wiederholungen drücken sehr viel über diese Tugend aus. Sie will eingeübt werden, und diese Einübung bedarf des inneren Kampfes,
doch ebenso wie schon bald die Melodie den Sänger trägt, so trägt die Hoffnung den Christen.
An einigen Stellen des Tagebuchs Frère Rogers wird seine Ratlosigkeit angesichts der bedrängenden Probleme der Menschheit deutlich, und er zögert nicht, dieses Nichtwissen auch auszusprechen. Immer wieder kommt es aber nach einer vorläufigen Orientierungslosigkeit zu einem „Aufbruch ins Ungeahnte“, und er sucht tastend in kleinen Schritten den neuen Weg zu beschreiten. Authentischer als Frère Roger kann man Hoffnung kaum leben, denn bei ihm bildet sie ein Fundament seiner gesamten Spiritualität.
„Der Mensch ist für die Hoffnung geschaffen. Für ihn werden alle Dinge neu. Eines Tages leuchtet mitten in unserer Finsternis ein lebendiges Wort auf. Es öffnet uns unwiderstehlich für den Mitmenschen.“ [95]
3. Liebe
Mutter Teresa:
Wenn man das Leben Mutter Teresas in einem einzigen Satz zusammenfassen möchte, so lautet dieser:
Sie liebte Gott und sie liebte die Menschen.
Zuerst stand die Liebe zu dem dreifaltigen Gott, dem Schöpfer, Erlöser und Lebensspender, und ihm hatte sie in heiligmüßiger Radikalität ihr Leben anvertraut.
Die Liebe zum Schöpfer führte ganz natürlich zur Liebe zu seinen Geschöpfen und durch sie wieder zu ihm zurück.
Ihre wunderschönen Aussprüche über die Liebe lassen uns erahnen, wie groß das in Worte Gefasste bei ihr in Wirklichkeit gewesen sein muss und machen verständlich, warum sie selbst von so vielen geliebt wurde.
Mutter Teresa war bemüht, Jesus in jedem Menschen zu erkennen, auch und gerade, wenn er in einer ärmlichen Verkleidung kaum zu erkennen war, und sie erwartete nicht eine Erwiderung ihrer Zuneigung, sondern gab die Liebe um ihrer selbst willen.
Ihre oftmals schier übermenschliche Zuneigung zu Menschen in abstoßenden und gefährlichen Lebensverhältnissen ist nur aus ihrer vollkommenen Hingabe an Jesus zu verstehen und war in ihrer Radikalität und Echtheit ein wichtiger Grund dafür, dass so viele ihrem Beispiel folgten.
„Liebe muss weh tun.“, dieser Satz, der für unsere Ohren doch recht ungewöhnlich klingt, war einer ihrer Leitsprüche und findet sich in ihren Schriften immer wieder. Er ist zutiefst christlich, denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eigenen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt das ewige Leben hat (vgl. Joh 3,16), und eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde (vgl. Joh 15,13).
Ihr Eintritt in den Orden geschah aus Liebe, und es tat weh. Ihr Austritt aus dem Orden und ihr Weg zu den Armen in den Slums geschah aus Liebe, und es tat weh. Ihr ganzes Leben war geprägt vom liebenden Mittragen des Leids, und so heilte sie viele Wunden.
„Und wo beginnt diese Liebe? In unserem Herzen!
Wir müssen uns bewusst sein dass wir für etwas Großes geschaffen sind, nicht dafür, eine Nummer in der Welt zu sein und auch nicht dafür, akademische Grade und Titel zu erwerben oder diese oder jene Arbeit zu tun.
Wir sind geschaffen, um zu lieben und geliebt zu werden.“ [96]
„Jesus ist in die Welt gekommen, um uns die frohe Botschaft zu bringen, dass Gott Liebe ist.
Er liebt uns, er liebt dich und mich. Er möchte, dass wir einander lieben, wie er jeden von uns liebt. Lieben wir ihn! Wie liebte ihn der Vater? Er schenkte ihn uns.
Wie hat Jesus uns geliebt? Er gab sein Leben für uns; er gab uns alles, was er hatte, für mich und für dich. Aus Liebe zu uns ist er am Kreuz gestorben.
Wenn wir auf das Kreuz schauen, verstehen wir die Größe seiner Liebe. Wenn wir auf die Krippe schauen, verstehen wir die Zärtlichkeit seiner Liebe zu dir und zu mir, zu deiner Familie und jeder Familie.
Dazu ist Jesus gekommen: um uns die Zärtlichkeit der Liebe Gottes zu zeigen.“ [97]
„Liebe kann für selbstsüchtige Zwecke missbraucht werden. Ich liebe jemand, aber gleichzeitig möchte ich von ihm soviel wie möglich haben, selbst Dinge, die zu nehmen mir nicht ansteht.
Dann ist das keine wahre Liebe mehr.
Wahre Liebe tut weh. Sie muss immer weh tun. Es muss schmerzlich sein, jemand zu lieben; schmerzhaft, ihn zu verlassen, man möchte für ihn sterben. Wenn Menschen heiraten, müssen sie alles aufgeben, um einander zu lieben. Die Mutter, die einem Kind das Leben schenkt, leidet viel.... Das Wort ,Liebe’ ist so missverstanden und so missbraucht.“ [98]
Frère Roger:
Für einen so außergewöhnlichen Christen wie Frère Roger ist natürlich auch die Liebe einerseits das stets schon Erahnbare und andererseits das stets Neue und Staunenswerte.
Der liebende Gott prägt seine Spiritualität ganz wesentlich, und doch wird er niemals dazu missbraucht, die Härten des menschlichen Lebens zu verharmlosen. Die Liebe des Vaters wird vielmehr auf endgültige Weise dadurch offenbar, dass er seinen geliebten Sohn in die Welt sendet, um die Menschen aus der Knechtschaft der Sünde zu befreien.
Die Liebe Jesu zu den Menschen ist die Liebe Gottes zu den Menschen. Gerade weil er liebt, scheut es Jesus nicht, das Schicksal der gefallenen Menschheit zu teilen und sie durch Leiden und Tod in die Auferstehung mit hinein zu nehmen.
Dieser auferstandene Jesus, in dem die Liebe Gottes zu den Menschen gleichsam zu ihrem ewigen Höhepunkt kommt, ist in einzigartiger Treue auch immer wieder die Mitte und das Ziel des Gebetes und Sprechens Frère Rogers.
Ein holländischer Bischof drückte seine Bewunderung für diesen beharrlichen Blick auf den Wesentlichen einmal so aus: „Wir Bischöfe versuchen oft jahrelang, mit allen möglichen organisatorischen Mitteln, ein Treffen der Jugendlichen unserer Diözese zu veranstalten, zu dem dann kaum jemand kommt. Sie hingegen bleiben der eigentlichen Mitte des christlichen Glaubens, dem auferstandenen Jesus, treu, und Tausende möchten mit ihnen sein.“
Frère Rogers unermüdlicher Eifer für die Menschen ist wohl der schönste Ausdruck seiner Liebe zu ihnen. In den Tagebüchern gibt es viele Stellen, an denen er aufgrund von Überlastung vor einer nahezu aussichtslosen Situation steht, und gerade dann treibt ihn die Liebe zu den ihm Anvertrauten immer wieder den entscheidenden nächsten Schritt weiter.
Das einfache Zuhören und das einfache Offensein für den anderen, sind in ihrer Schlichtheit sehr eindringliche Zeichen seiner Zuneigung zu den unterschiedlichsten Menschen.
Die Communauté hat sich von Anfang an als ein Gleichnis verstanden, an dem alle erkennen können sollen, dass die Brüder Jünger Jesu sind, weil sie einander lieben (vgl. Joh 13,35).
Der verständnisvolle Umgang miteinander macht sehr deutlich, dass sie einen gemeinsamen Herrn haben, der mitten unter ihnen ist, und dessen Anwesenheit auf geheimnisvolle Weise auch von der Liebe seiner Freunde zueinander abhängig ist.
Die Quellen von Taizé, das gemeinsame Grundprogramm der Gemeinschaft, trägt den Titel „Liebe aller Liebe“ und behandelt auf sehr behutsame Weise das Zusammenleben der Brüder, in dem Ihr Zusammenleben mit Gott sichtbar werden soll.
„Aber Christus ist auch ein anderer als du selber. Er, der lebendige, steht vor dir, jenseits von dir. Das ist sein Geheimnis: er hat dich zuerst geliebt.
Das ist der Sinn deines Lebens: geliebt zu sein für immer, geliebt in alle Ewigkeit, damit du selber grenzenlos liebst.
Ohne die Liebe, wozu leben?
Von nun an ist nur eines verhängnisvoll im Gebet wie im Kampf: die Liebe verlieren.
Ohne die Liebe, wozu glauben, wozu selbst seinen Leib zum Verbrennen hingebe?
Ahnst du es? Kampf und Kontemplation haben nur eine einzige Quelle: Christus, der Liebe ist.
Wenn du betest, geschieht es aus Liebe.
Wenn du kämpfst, um dem Ausgebeuteten seine Menschenwürde wiederzugeben, so geschieht auch das aus Liebe.“ [99]
„Lieben ist ein so geschundenes Wort. Lieben sagt sich leicht dahin. In der Liebe zu leben, die verzeiht, ist etwas anderes.“ [100]
„Wir haben uns für die Liebe entschieden. Diese Entscheidung lässt im Menschen einen Wunsch aufbrechen, von dem er niemals genesen wird.“ [101]
4. Klugheit
Mutter Teresa:
Über Klugheit sprach Mutter Teresa nicht viel, sondern sie lebte sie wie selbstverständlich.
Viel treffender beschreibt das Wort Intuition ihr Geheimnis, doch diese Intuition wird auch immer wieder in der ihr eigenen Bauernschläue sichtbar.
Als Papst Paul VI. sie 1964 in Indien besuchte, schenkte er ihr eine Luxuslimousine, die er selbst als Geschenk erhalten, und nur wenige Stunden benutzt hatte. Ein Direktverkauf hätte
etwa 7500 Pfund erbracht, doch Mutter Teresa hatte eine bessere Idee. Jede Spende über 13 Pfund wurde mit einer Quittung bestätigt, und als schließlich der Gewinner gezogen wurde, hatte sie mittlerweile 37500 Pfund erhalten. [102]
Frère Roger:
Auch Frère Roger spricht nur selten ausdrücklich von der Klugheit, aber sein ganzes Leben erscheint dennoch als klug und geglückt.
Dies ist umso erstaunlicher, als viele seiner Handlungen rein vordergründig als unklug erscheinen könnten.
Doch gerade die konsequente Einfachheit des Lebensstils, die zum Beispiel auch die alljährliche Vernichtung der allermeisten, im Laufe des Jahres angesammelten, Dokumente durch jeden einzelnen Bruder umfasst, hat der Communauté ihre erstaunliche Frische und Dynamik bewahrt.
Sein Leben lang geführt durch den Heiligen Geist, wurde Frère Roger die Klugheit wie eine selbstverständliche Gabe geschenkt.
5. Gerechtigkeit
Mutter Teresa:
Bei Mutter Teresa ist erstaunlicherweise praktisch nie der sprichwörtliche „Ruf nach Gerechtigkeit“ zu hören. Sie, die zeitlebens die Ungerechtigkeit in ihren mannigfachen Formen erlebt hatte, schaute viel eher auf ihre Ursachen und versuchte, ihre Wirkungen zu mildern.
Der tiefste Grund, die Trennung des Menschen von Gott, ist schon durch die „übergroße Gnade“ (Röm 5, 20) Gottes, die in Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi sichtbar wurde, überwunden, und auf eben diesen Jesus hinzuweisen, wurde Mutter Teresa nie müde.
Jesus, den ungerecht Behandelten schlechthin, in jedem ihrer Mitmenschen zu erkennen, und das unvorstellbare Leid auf jede nur erdenkliche Art zu mildern war der Inhalt ihres ganzen Lebens. Dass andere Menschen jedoch auch auf anderen Ebenen für eine gerechtere Welt arbeiten sollten, stand für Mutter Teresa außer Zweifel, sie selbst fühlte sich dazu nicht berufen.
„Es gibt auf der Welt Leute, die sich für Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzen und so die Strukturen zu verändern suchen. Wir sind dem gegenüber nicht gleichgültig, aber in unserem täglichen Leben haben wir es mit Leuten zu tun, die nicht einmal ein Stück Brot zu essen haben. Unsere Aufgabe ist es, dieses Problem individuell zu betrachten - und nicht kollektiv.
Wir sorgen uns um eine Person, und nicht um eine Mehrheit. Wir suchen den Menschen, mit dem Jesus sich selbst identifizierte, wenn er sagte: ,Ich war hungrig. Ich war krank.’ Würden wir das Problem allgemeiner betrachten, dann hätten wir kaum den Mut, etwas zu unternehmen. Ich könnte die Gründe für die Armut in der Welt in einem einzigen Wort zusammenfassen: Egoismus.
Uns fehlt der Großmut, mit den anderen zu teilen, was wir besitzen. Die Reichen werden reicher und reicher, und die Armen ärmer und ärmer. Die Inflation, die die ganze Welt heimsucht, macht das Leben für die Amen fast unmöglich. Nichtsdestoweniger verlasse ich mich darauf, dass die Missionare der Nächstenliebe in Brasilien wie in anderen Ländern eine Brücke zwischen arm und reich schlagen; dies bemühen wir uns zu sein: eine Brücke zwischen zwei Welten.“[103]
Frère Roger:
Für Frère Roger ist Gerechtigkeit ein Fundament des christlichen Lebens, aber auch seine Aussagen zu diesem Thema sind nicht im banalen Sinne kämpferisch oder anklagend. Er entwirft keine Theorie der Gerechtigkeit, sondern stellt sie als ein drängendes Gebot der Stunde dar.
Gerade die ungerechte Verteilung der materiellen Güter ist eine für das Christentum beschämende Tatsache, zumal sich der Reichtum dieser Welt heute vor allem in der Hand von Christen in den nördlichen Ländern befindet. Mitten durch die Gemeinschaft der Gläubigen geht eine skandalöse Trennlinie von reich und arm, die von den einen noch nicht einmal bemerkt wird, und den anderen die Chance auf ein menschenwürdiges Leben nimmt.
Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und dennoch unermüdlich der Ruf der Versöhnung an alle Streitparteien zu richten, war schon immer eines der vordringlichen Anliegen Frère Rogers, und sein großes Ansehen verschaffte ihm auch bei den verschiedensten Parteien Gehör.
„Wie kann man im Kampf an der Seite der unterdrückten Menschen sein ganzes Leben einsetzen und das Risiko wagen, es um der Liebe willen zu verlieren, wenn man nicht unaufhörlich aus den christlichen Quellen schöpft und trinkt. Nur so kommt die Schöpferkraft Gottes im Menschen zur Wirkung. Wenn er sich auf ein inneres Abenteuer mit dem Auferstandenen einlässt, Schritt für Schritt, in einem brennenden Kampf für die Gerechtigkeit, dann nimmt er teil am Marsch des Menschen und der Menschheit, die als Ziel die Befreiung von der Unterdrückung hat.[104]
„Las dich nicht festlegen auf die Alternative: Engagement auf Seiten der Unterdrückten oder Suche nach den Quellen. Nicht Kampf oder Kontemplation, sondern das eine mit dem andern zusammen, das eine als Quelle des andern.“ [105]
„Durchbrich die Unterdrückung der Armen und Ausgebeuteten, und staunend wirst du sehen, wie sich schon jetzt auf der Erde Zeichen der Auferstehung aufrichten. Teile deine Güter um einer größeren Gerechtigkeit willen. Mache niemand zu deinem Opfer. Sei allen Menschen Bruder, schlage dich immer zu den Ausgestoßenen und Verachteten.“ [106]
6. Tapferkeit
Mutter Teresa:
Auch die Tapferkeit wurde von Mutter Teresa nicht sonderlich oft erwähnt, sie gehörte für sie ganz natürlicherweise zum Leben eines Christen. Viel wichtiger war ihr die Liebe,
aber um zu lieben, bedarf es eben immer wieder auch des Kampfes und der Tapferkeit.
Das christliche Leben, die Nachfolge des Herrn, ist und bleibt ein Abenteuer, und wie auch Jesus besorgt aber entschlossen den Weg nach Jerusalem betrat, so tat dies gleichsam auch Mutter Teresa unzählige Male, wenn sie allen Widerständen zum Trotz ihrem Erlöser treu blieb.
Eine Begebenheit, von der auch eine indische Zeitung berichtete, mag als Beispiel für ihren ungewöhnlichen Mut, der ganz in ihrem Vertrauen auf Gott gegründet war, dienen:
Als Mutter Teresa eines Tages in der Sackgasse eines Elendsviertels Aussätzige pflegte, stürmte ein aufgeschreckter Stier in die Gasse, durchbohrte mit seinen Hörnern einen alten Mann, der ihm in den Weg kam und raste direkt auf die Aussätzigen zu. Mutter Teresa trat unmittelbar in die Bahn des Tieres und streckte die Arme weit aus. Vielleicht war der Stier von dieser plötzlichen Erscheinung verstört, oder vielleicht wusste er instinktiv, dass er das Ende der Sackgasse erreicht hatte, jedenfalls hielt er an, drehte sich um und trottete friedlich davon.[107]
Besonders am Anfang ihrer Tätigkeit für die Ärmsten der Armen musste Mutter Teresa viele Widerstände von außen überwinden. Als sie ein Haus für Sterbende ganz in der Nähe eines Hindutempels von der Stadtverwaltung zugesprochen bekam, gab es dort für sie immer wieder Anfeindungen, Drohungen und Steinhagel.
Einer Gruppe aufgehetzter Jugendlicher rief sie eines Tages zu:, Ihr könnt mich umbringen, ich werde direkt in den Himmel auffahren, aber ihr müsst mit diesem Unsinn aufhören.’
Kurz darauf verlangten Bewohner aus der Umgebung vom örtlichen Polizeikommissar ihre Ausweisung.
Dieser sah sich das Sterbehaus an und meinte dann zu den Anklägern:
,Bevor ich diese Dame ausweise, müsst ihr eure Mütter und Schwestern herbringen, damit sie die Arbeit tun, die sie tut. Hinter diesem Platz ist ein Steinbildnis der Göttin Kali. Hier ist die lebendige Kali.’
Schließlich sah Mutter Teresa eines Tages auf dem Bürgersteig vor dem Kalitempel eine Menschenmenge und mitten darin einen sterbenden Mann in einer Lache von Unrat.
Keiner wollte ihn anrühren, weil er die Cholera hatte.
Mutter Teresa hob ihn auf und trug ihn ins Heim, wo sie ihn pflegte und für ihn sorgte. Er starb, aber er hatte einen glücklichen Tod.
Er war Priester im Kalitempel gewesen. Danach gab es keinen Ärger mehr. [108]
Frère Roger:
Auch für Frère Roger ist die Verbindung eines liebenden Herzens mit einer außergewöhnlichen Tapferkeit charakteristisch. Der Mut, neue Wege zu gehen, selbst wenn sie oft durch fast undurchdringliche Finsternis führen, hat ihn bis heute nicht verlassen.
Als er mitten im Krieg im besetzten Frankreich Flüchtlinge aufnahm, schwebte er in akuter Lebensgefahr. Dass Gott aber gerade die angsterfüllten Stunden fruchtbar werden lassen kann, ist an diesem Beispiel eindrucksvoll zu erkennen.
„An diesem Sommerabend im Jahre 1942 war ich noch allein in Taizé...Ich wusste mich in Gefahr wegen der politischen Flüchtlinge, die ich im hause beherbergte. Schwer hing die Drohung einer Verhaftung über mir. Eine Gruppe Zivilpolizisten, die auf Streife war, kam mich zu verhören. An jenem Abend, als die Angst mein Herz zusammenschnürte, stieg ein Gebet in mir auf, mit dem ich Gott anrief, ohne wirklich zu verstehen, was ich sagte: ,Nimm mein Leben, wenn du es für gut befindest, aber gewähre, dass das, was hier begonnen hat weitergehe.’
Und was hatte hier vor zwei Jahren begonnen?
Vor allem Gastfreundschaft und das einsame Gebet.“[109]
Immer wieder fuhr er auch in Krisenregionen, um den Unterdrückten beizustehen, so zum Beispiel kurz nach dem Militärputsch in Chile im Jahre 1976. Die Brüder besuchten schon in den sechziger Jahren die Länder des damaligen Ostblocks und knüpften zahlreiche Kontakte mit verfolgten Christen, die zum Teil heute noch bestehen.
Frère Roger selbst fuhr etliche Male selbst in die kommunistischen Staaten, wo er, trotz strenger Überwachung und allen möglichen Schikanen von Seiten der Behörden, mit Tausenden jungen Menschen in den Kathedralen zum Gebet zusammenkam.
Jahrelang verbrachte er mit einigen Helfern eine längere Zeit in einer Armutsregion der Welt und teilte mit den Menschen dort alle Gefahren ihres täglichen unsicheren Lebens.
Verschmutztes Wasser, ungenügende Nahrung, sowie Bedrohungen durch ein sehr raues Milieu nahm er dabei ebenso in Kauf wie den Verzicht auf sämtliche Annehmlichkeiten das Quartier betreffend.
Die Brüder suchten manchmal wochenlang nach einer entsprechenden Unterkunft und wiesen wohlgemeinte Angebote von weltlichen und kirchlichen Institutionen, die dem wirklich armen Leben nicht entsprachen, mit freundlicher Bestimmtheit zurück.
Auch die Fraternitäten, in denen jeweils vier Brüder für längere Zeit zusammenleben und ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit gemeinsam verdienen, wurden von Anfang an in besonders benachteiligten und oft auch gefährlichen Gebieten der Erde angesiedelt, wie zum Beispiel der Bronx in New York.
7. Mäßigung
Mutter Teresa:
Für einen Menschen, der so stark mit den Armen verbunden war sie Mutter Teresa war diese Tugend natürlich eine Selbstverständlichkeit. Und doch wusste sie sehr genau, dass ein Mindestmaß an Stabilität für das Leben einer Schwester einfach unerlässlich ist.
Die Schwestern besitzen nur das Allernotwendigste, aber darauf haben alle ein unbedingtes Anrecht. Auch dürfen aus dem Mutterhaus keinerlei Gegenstände abgegeben werden, eine Vorschrift, die Mutter Teresa selbst aber in besonderen Situationen nicht einhielt. Die Mäßigung bezieht sich natürlich auch auf das Essen, doch auch hier gibt es zu besonderen Anlässen Ausnahmen.
Das besondere Geheimnis ist aber sicherlich das Maßhalten zwischen Arbeit und Gebet, wobei beide in erstaunlicher Intensität gelebt werde. Jede Schwester hat in der Früh und am Abend eine Stunde Zeit zum Gebet, sowie zu Mittag eine halbe Stunde.
Frère Roger:
Die einzelnen christlichen Tugenden sind eng miteinander verbunden, und daher kann an das bisher schon Gesagte angeschlossen werden.
Auch Frère Roger lebt sehr bewusst in den Spannungen dieser Welt und versteht es meisterhaft, die vermeintlichen Gegensätze miteinander zu vereinen. So wird scheinbar Unmögliches möglich und die Kraft des Herrn, der alles zusammenhält, sichtbar.
Kampf und Kontemplation, Arbeit und Gebet, Armut und Gastfreundschaft, Einfachheit und Freude, Dynamik und Stille, Einheit und Vielfalt, und natürlich auch die befruchtende Begegnung zwischen verschiedenen Nationen, Religionen und Konfessionen sind Eckpfeiler in der Spiritualität dieses so bedeutenden Christen.