II.   EINLEITUNG

 

 

Schlagen Sie ein beliebiges Buch über große Christen der Gegenwart auf, und sie werden zwei Namen sicherlich finden: Mutter Teresa und Frère Roger.

 

 

Wie kommt es, dass gerade diese beiden von Natur aus unauffälligen und bescheidenen Menschen eine derartige Bedeutung für die zahlenmäßig größte Weltreligion erlangt haben, und ihre Personen immer wieder als Musterbeispiel eines geglückten Lebens in der Nachfolge Jesu Christi genannt werden?

 

Wie kommt es, dass diese beiden Menschen im „berühmt-berüchtigten“ 20. Jahrhundert größte Anerkennung von Vertretern der verschiedensten Weltanschauungen genießen, ohne auch nur im geringsten „modern“ zu sein?

 

Wie kommt es schließlich, dass Arme und Reiche, Junge und Alte, Linke und Rechte, Progressive und Konservative, Katholische und Evangelische, Kirchenferne und Kirchennahe, Schwarze und Weiße, Mächtige und Machtlose,... sich auf die Autorität dieser beiden Menschen berufen, um ihre persönlichen Anliegen zu bekräftigen?

 

 

Auf all diese Fragen gibt es natürlich nur eine wirklich entsprechende „Antwort“, die uns Gott selbst in der Heiligen Schrift immer wieder mitteilt:

„Ist beim Herrn etwas unmöglich?“  (Gen 18,14; Jer 32,17; Lk 1,37; Röm 8,3).

 

 

Diese einfache Erklärung wollen wir bei allen unseren nun folgenden Überlegungen stets mit- berücksichtigen, sie ist der Untergrund auf dem wir unseren Weg in behutsamer Annäherung an die faszinierenden Persönlichkeiten von Mutter Teresa und Frère Roger beschreiten.

Wissenschaftlich vorzugehen bedeutet hier, sich in geordneten und nachvollziehbaren Gedankengängen einem Phänomen zu nähern und die dabei gewonnenen Erkenntnisse glaubhaft zu begründen versuchen.

 

Der Kompass, dessen wir uns zur besseren Orientierung dabei bedienen, ist eine These oder Annahme, die die anzustrebende Richtung angibt, und selbst immer wieder hinterfragt und geprüft werden wird. In einem anderen Bild ausgedrückt ist die These gleichsam der rote Faden, der sich durch das gesamte Werk zieht und es ermöglicht, Zusammenhänge besser zu erkennen.

Sie versucht, die aufgeworfenen Fragen mit einer möglichst einsichtigen Begründung zu beantworten, und dennoch die Spannung zwischen dem letztlich Unbeantwortbaren dieser Fragen und der berechtigterweise angestrebten Erkenntnis zu wahren.

 

 

 

 

 

 

Diese These lautet:

Mutter Teresa und Frère Roger sind deshalb überzeugende Christen, weil sie überzeugte Christen sind. Im Bewusstsein sowohl der ewigen Wahrheiten des Glaubens als auch der Vorläufigkeit der Gestalt dieser Erde haben sie es verstanden, am Unaufgebbaren festzuhalten und gerade so in voller Verfügbarkeit den Weg der Nachfolge Jesu mitten in der Welt  zu gehen.

 

Anders ausgedrückt befindet sich ihr Leben in der Spannung von „conservare“

(lat. für bewahren, behüten) und „progredi“ (lat. für voranschreiten, entwickeln) und diese auf mustergültige Weise bewahrte Grundhaltung hat wie die Sehne eines Bogens ihrem Leben einen staunenswerten Antrieb verliehen.

In aller inneren Ruhe fast ohne jede äußere Ruhe für die Frohe Botschaft vom in Jesus Christus angebrochenen Gottesreich unterwegs zu sein, ist ein Kennzeichen ihrer Existenz. Gedrängt von der Liebe Christi ( 2Kor 5,14) haben sie eben diese Liebe zu den Menschen in allen Teilen der Erde gebracht.   

Tief gegründet im Glauben an den dreifaltigen Gott ist es ihnen gelungen, scheinbar unüberwindliche Gegensätze zu vereinen, und zu glaubwürdigen Zeugen für den auferstandenen Herrn mitten in einer modernen Welt zu werden.

Im Blick auf die einfachen alltäglichen Pflichten konnten sie komplizierte Probleme lösen helfen, im beständigen Bemühen um den Aufbau des Reiches Gottes und um seine Gerechtigkeit ist ihnen alles andere hinzu gegeben worden (vgl. Mt 6,33).     

 

Die ewig gültigen Grundlagen eines christlichen Lebens sollen in den Blick kommen, und gezeigt werden, wie Mutter Teresa und Frère Roger sie zu leben versucht haben. Dabei wird immer wieder angestrebt, zu belegen, dass einerseits beide ganz fest in der Lehre der Kirche verankert sind, und andererseits durch ihre getreue Übersetzung dieser Lehre in das Leben eines Menschen des 20. Jahrhunderts auch viel „Neues“ zu sagen haben.

 

Die Größe dieses Vorhabens fordert natürlich eine Konzentration auf das Wesentliche, und dieses soll mit größtmöglicher Prägnanz dargestellt werden. Wie so oft hat sich die Themenstellung erst im Laufe der Zeit allmählich herauskristallisiert, aber meiner bescheidenen Meinung nach wird sie dem Anliegen, das dahinter steht, gerecht.

Die Botschaft dieser beiden großen Christen ist nämlich im gesamten so weit, und im einzelnen so wertvoll, dass auch eine wissenschaftliche Arbeit diesem Phänomen entsprechen sollte.

 

Mit Leichtigkeit könnte man sowohl über Mutter Teresa als auch über Frère Roger allein mehrere Diplomarbeiten verfassen, doch die eingehende Beschäftigung mit ihrem Leben hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass gerade das Gemeinsame und sich gegenseitig Ergänzende dieser beiden Menschen einen besonderen Schatz darstellt, der es wert ist, gehoben zu werden.

 

Einmal mehr zeigt sich, dass der Glaube an den dreifaltigen Gott den Menschen ganz in seiner Einzigartigkeit zum Vorschein kommen lässt und gerade so die einzelnen Menschen auf wunderbare Weise miteinander verbindet. Die Heiligen sind uns der beste Beweis für dieses geheimnisvolle Geschehen, in dem der Mensch sich selbst ganz Gott anvertraut und so erst wirklich er selbst wird, eben auch durch ein Zusammenleben mit seinen Mitgeschöpfen, in dem das Reich Gottes schon hier auf Erden erfahren werden kann.

 

Bei Mutter Teresa und Frère Roger kommen hier noch einige Dimensionen dazu, die die gemeinsame Betrachtung ihres Lebens als besonders reizvoll erscheinen lässt.

Frau und Mann, katholisch und evangelisch, Asien und Europa sind Kategorien, die ihre jeweilige Eigenart unverwechselbar prägen und dennoch aufgrund ihrer besonderen Seelenverwandtschaft vereint werden.

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Gedanken im Sommer 1998 kommt noch die geheimnisvolle Verbindung von Kirche des Himmels und Kirche der Erde hinzu und hilft, den Lebensübergang und die wirkliche Vollendung des Menschen im Reich Gottes zu erahnen.     

 

In literarischer Hinsicht bedeutsam ist die Tatsache, dass Mutter Teresa fast nie ausdrücklich als  Autorin in Erscheinung getreten ist, Frère Roger zumindest in den Anfangsjahren der Communauté hingegen schon. Der Großteil der in ihrem Namen erschienenen Bücher enthält Gedanken und Ratschläge, die sich an ihre große Ordensfamilie in den verschiedensten Belangen richten und später, nach Themen geordnet, zusammengefasst worden sind. Daneben sind noch eine Reihe von Biographien erschienen.

Frère Roger hingegen hat einige theologisch-spirituelle Bücher verfasst, aber in den letzten zwanzig Jahren vor allem Auszüge aus seinen persönlichen Tagebuchaufzeichnungen veröffentlicht.

 

Die Brüder der Communauté bringen regelmäßig Bücher mit seinen gesammelten wichtigsten Gedanken heraus, sowie den zweimonatlich erscheinenden „Brief aus Taizé“. Jeweils zu den Europäischen Jugendtreffen am Ende des Jahres erscheint der Jahresbrief, der zum Nachdenken und zum Austausch während des Treffens selbst und der darauf folgenden Treffen in Taizé dient.

 

Trotz aller Bescheidenheit und Zurückhaltung im Veröffentlichen ihrer Werke zählen Mutter Teresa und Frère Roger zu den meistgelesenen geistlichen Autoren der Gegenwart.

 

Zum besseren Verständnis seien hier noch einige Erläuterungen gegeben.

Der Orden Mutter Teresas besteht heute aus sieben Zweigen: den aktiven Schwestern und Brüdern, den kontemplativen Schwestern und Brüdern, den Patres, den Mitarbeitern und den kranken und leidenden Mitarbeitern.

Wenn von ihrem Orden oder ihrer Kongregation die Rede ist, so sind damit meist alle Genannten gemeint, wenn von Schwestern gesprochen wird, so sind damit fast immer die aktiven Schwestern, zu denen ihrer Aufgabe nach ja auch die Generaloberin gehörte, gemeint.

 

Es gibt berechtigte Gründe anzunehmen, dass Mutter Teresa nunmehr die unendliche Freude genießt, der Kirche des Himmels anzugehören, und deshalb auch um ihr fürbittendes Gebet bei Gott für unsere Anliegen hier auf Erden angerufen werden kann. Ihre irdische Existenz hat somit den krönenden Abschluss gefunden, und daher liegt es nahe, ihr ganzes bisheriges Leben in der Vergangenheitsform zu beschreiben.

 

Frère Roger, der auf dem besten Weg dazu ist, dieses unser aller Ziel auch zu erreichen, hat einen großen Teil seines irdischen Daseins schon hinter sich gebracht und ist doch ganz stark in der Gegenwart präsent.

Viele der Aussagen über sein Leben sind daher in der Vergangenheitsform geschrieben, aber natürlich viele andere wiederum in der Gegenwartsform.

Um ihre Worte möglichst authentisch wiederzugeben, habe ich mich entschlossen, die von mir zu den einzelnen Themen vertretenen Meinungen mit möglichst vollständigen Originalzitaten zu belegen, wobei aus Platzgründen die Zahl von jeweils drei Zitaten nicht überschritten wird.

 

Diese unsere Welt ist tatsächlich so voll von Leiden, Hass und Disharmonie, dass es gewiss keinen Platz mehr für Uneinigkeit zwischen Christen gibt.

Mutter Teresa glaubte an die christliche Einheit auch deswegen, weil sie davon überzeugt war, dass Christen Leuchten in der Welt sein sollten. Sie müssten erkennbar sein durch die Tatsache, dass sie einander lieben, und jeder Christ habe die Aufgabe, ein zweiter Christus zu sein.

Damit befand sich die kleine Nonne in vollem Einklang mit der Vision der Versöhnung, die Frère Roger dazu veranlasst hatte, mitten im Krieg die ökumenische  Communauté von Taizé zu gründen.

 

Im August 1976 besuchte Mutter Teresa Taizé, und trotz der Tatsache, dass sie kein Französisch und Frère Roger nur wenig Englisch konnte, fanden sie ein gegenseitiges Verständnis auf der Grundlage gemeinsamen Mitgefühls und Engagements. Es war die Art von Verständnis, das nach Frère Roger am besten wirkte, wenn man gemeinsam allein war.

Einer seiner Brüder meinte damals dazu: „In vieler Hinsicht sind sie sehr verschieden, aber es gibt zwischen ihnen ein nicht bestimmbares Etwas, das auf der Herzensebene wirkt.“

 

Im selben Jahr verbrachten Frère Roger und einige andere Brüder von Taizé eine Weile in den Slums von Kalkutta, wo sie in einer Baracke hausten und das Leben der Ärmsten der Armen teilten, ganz in der Nähe von Mutter Teresas erster Arbeitsstätte.

Der Prior erinnerte sich mit offensichtlicher Zuneigung daran, wie Mutter Teresa die notwendige Organisation in die Hände nahm. Sie sorgte dafür, dass sie das für sie bestimmte Sakrament erhielten, besorgte einen hölzernen Tabernakel, in dem sie die Eucharistie in ihrer Slumbaracke aufbewahren konnten und nahm an ihrem morgendlichen Gebet teil.

 

Mutter Teresa verlangte Frère Roger auch das Versprechen ab, dass er in Kalkutta die ganze Zeit über seine weiße Kutte trug, als sichtbarer Zeuge der Liebe Gottes in der Welt. Normalerweise trugen die Brüder während der Arbeit ihre Kutten nicht, aber in Kalkutta willigte der Prior ein, sie überall zu tragen. Dafür nahm Mutter Teresa seine Maße für ein leichtes Gewand und nähte es zumindest teilweise selbst. 

 

Bis zu ihrem Heimgang und wohl auch darüber hinaus verband die beiden eine tiefe geistliche Freundschaft.

Einige Tage nach Mutter Teresas Geburtstag im Himmel schrieb Frère Roger folgende Zeilen[1]:

 

„Mutter Teresa ist in das Leben eingegangen, das kein Ende kennt. Mit den Brüdern unserer Communauté, insbesondere den Brüdern, die in Asien leben, und mit den Jugendlichen aus allen Erdteilen, die derzeit in Taizé zusammen sind, teilen wir das Leid der Schwestern Mutter Teresas und aller, die ihr nahe standen.

Sie wusste, dass wir in einer Welt sind, in der Licht und Dunkel nebeneinander stehen. Ihr Leben war eine Einladung, sich für das Licht zu entscheiden.

 

Ich begegnete ihr in den unterschiedlichsten Situationen, unter anderem als ich mit einigen meiner Brüder in Indien unter den Ärmsten mit lebte.

Bei einem ihrer Besuche in Taizé lag uns daran, einen gemeinsamen Aufruf zu verfassen, der nach wie vor Gültigkeit hat:

,In Kalkutta stehen sichtbare Sterbehäuser, aber in den westlichen Gesellschaften leben viele Jugendliche in unsichtbaren Sterbehäusern. Sie sind von abgebrochenen menschlichen Beziehungen oder der Sorge um ihr Zukunft gezeichnet.

Entmutigt fragen sich manche: ,Wozu überhaupt leben? Hat das Leben noch einen Sinn?’

 

Unter den schönen mit ihr verbrachten Stunden zählen vor allem auch jene 1984 in Rom, wo man uns gebeten hatte, gemeinsam die Eröffnungsfeier der ersten Weltjugendtage zu gestalten.

 

Das Gebet war für Mutter Teresa die Quelle einer Liebe, die das Herz zum Brennen bringt. Es muss ihr bewusst gewesen sein, dass Gemeinschaft in Gott zu einer Verklärung unserer Person führt.

 

Und es stellt sich die Frage: Wie können wir die seelischen und körperlichen Leiden der Menschen auf der Erde lindern?“

 

 

 

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